Das gedämpfte Halbdunkel einer geräumigen Dachgeschosswohnung. Ein Bob-Dylan-Näseln ist zu vernehmen, sanft fließend im Hintergrund.
Während das Licht aufzieht, ist in der Mitte des Zimmer ein lässig gekleideter Typ, Kruse genannt, zu sehen. Wilde Haare, verwegener Bart, Sonnenbrille. Raucht. Zielsicher zieht er eine LP aus der sagenumwobenen Plattensammlung und verpasst nicht den perfekten Anschluss für das Mixtape.
Am Tisch, Herr B., ein hagerer Typ in Jeans und T-Shirt, ein Aufnahmegerät vor sich stehend, verpasst hingegen den leisen Einstieg.
Herr B: Wusstest du, dass „KLASSENFEIND“ (Nigel Williams, deutsch von Jürgen Kruse und Peter Stein) jetzt gerade am Jungen Schauspielhaus in Zürich auf dem Spielplan steht?
Kruse: Wie jetzt? Mein Text? Nee. (schmunzelt) Das wird teuer!
Moment des Schweigens. Kruse setzt sich gegenüber und schenkt beiden ein.
Kruse: Da hat die Schweiz aber lange gebraucht, hehe. (lacht) Und Zürich braucht noch länger. Peter Stein hat mich damals jedenfalls in den Film gezerrt „Züri Brännt!“ Das war 1980. Jetzt haben wir 2007. (Pause) Ein Dokumentarfilm. Da waren die Knüppel noch aus Gummi…Weichgummi.
Mein liebster Satz aus KLASSENFEIND ist und bleibt: »Bis später Leute!« – »Ja, bis später. Vielleicht auch nicht bis später.« Und: »Vielleicht haben wir Glück.«
Ein Telefon klingelt. Es läutet, bis es von selbst verstummt.
Kruse: OK, frag‘ mich was!
Herr B: Ich denke, wir werfen zu anfangs mal einen Blick in deinen Lebenslauf?
Kruse: Lebenslauf?
Herr B: Ja klar. Steht ja alles doch im Netz, bei Wikipedia. Online. Kann jeder mitmachen…
Kruse: …und deswegen verblödet das immer mehr, oder!? (schüttelt widerwillig den Kopf) Internet, ach ja. Hatte ich glatt vergessen. (aufmerksam) Ach, hab übrigens ein Stück geschrieben.
Herr B: Echt? Fertig geworden?
Kruse: Na klar…nur den Mittelteil. Aber es kommt nicht über 22 Seiten, keine Sorgen.
Herr B: »Jürgen Kruse«, soll ich mal vorlesen?
Kruse: Hrrm, aber nicht, wenn‘s weh tut. Denke daran, dass ich jeden Tag Geburtstag habe…außer heute. (lacht)
Herr B.: Also »Jürgen Kruse, geboren am 08. Februar 1959 in Hamburg, ist ein deutscher Theaterregisseur.«
Kruse: Hehe!
Herr B: »Kruse begann seine Theaterlaufbahn nach dem Realschulabschluss 1975 als Regieassistent seines Cousins, des Regisseurs und Schaubühnen-Schauspielers Roland Schäfer.«
Kruse: Das war woanders. Siehst du, es geht schon los. (verbessert)…in Bre-e-emen bei Hübner, in Kö-h-öln bei Heyme.
Herr B: Hört hört. Hier steht‘s: »Danach war er Assistent von u.a. Hansgünther Heyme und Christof Nel.«
Kruse: Stimmt. Aber da fehlen die ganzen anderen Städte. (Pause) Frechheit!
Herr B: »1978 wurde er an die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer engagiert und arbeitete dort mehrere Jahre als Assistent von Peter Stein.«
Kruse: Anderthalb! Hat frühzeitig gekündigt – kannste ruhig da rein schreiben. Korrigier das! Dreijahresvertrag. VOR…(überlegt)…zeitig aus dem Vertrag rausgestrichen. (imitiert Tonfall Peter Stein) »Und warum, wenn ich das fragen darf?« – »Ich glaube, du brauchst Bessere.«
Herr B: »Seit 1982 war er freier Regisseur, u.a. bei Horst Statkus am Theater Basel und am Theater Luzern, blieb aber auch der Schaubühne treu. 1989 engagierte ihn Friedrich Schirmer als Oberspielleiter an das Theater Freiburg, wo Kruse…«
Kruse: Das dazwischen ist alles weg?? Da war doch alles mögliche. Köln, Düssel…nee…Dortmund, weiß der Geier. Alles weg?
Herr B: »…Theater Freiburg, wo Kruse mit wichtigen, stilbildenden Inszenierungen…«
Kruse: (höchst amüsiert) Stilbildend?!
Herr B: »…seinen Ruf als einer der interessantesten und konsequentesten deutschen Jungregisseure festigte. 1993 wechselte er zu Peter Eschberg an das Schauspiel Frankfurt am Main. Seine Frankfurter Inszenierung von Henrik Ibsens Hedda Gabler wurde 1994 zum Berliner Theatertreffen eingeladen.«
Kruse: Fanden sie aber nicht so toll. (grinst breit) Zugegeben – war auch das Beschissenste, was man je gemacht hat. (Pause) Der ganze Scheiß dazwischen ist weg? Schade.
Herr B: Ja, denn schon sind wir im Jahre 1995: »1995 berief ihn Leander (beide hüsteln) Haußmann in das Leitungsteam des Bochumer Schauspielhauses…«
Kruse: …das Ganze dazwischen ist wirklich W-E-G? Nicht zu fassen.
Das Telefon klingelt. Kruse geht und hebt ab.
Herr B: »…und er blieb dort als Oberspielleiter bis zum Ende der Intendanz Haußmann im Jahr 2000.«
Kruse telefoniert im Off. Derweil überprüft Herr B sein von mal zu mal leierndes Tonbandgerät. Im Hintergrund spielt ein Cowboy auf seiner Mundharmonika. Die Platte kratzt und knarzt heimelig.
Kruse: (hängt ein und kommt wieder) Die habe einfach das dazwischen weggelassen? Unfasslich.
Herr B: (nimmt den Faden wieder auf) »Kruse fordert seine Zuschauer - und sich selbst - zur Erinnerungsarbeit auf. Das jeweils entstehende Gesamtbild erscheint durch seine Komplexität von außen unangreifbar, ist aber in sich äußerst zerbrechlich.«
Kruse: Ich war doch immer nur froh, dass es vorbei ist. (Pause) Also, wo waren wir? Ach ja: los, frag was!
Herr B: Glaubst du an Engel?
Kruse: Engel? Der Papst sagt, es gibt sie.
Herr B: Die Antwort ist geklaut.
Kruse: Naaa…sagen wir…ich hab‘s bearbeitet.
Herr B: Machen wir einen Sprung: Erste Musik.
Kruse: Erste Musik?
Herr B: Ja, was war die erste Musik, an die du dich erinnerst?
Kruse: Die Frage ist auch geklaut.
Herr B: Naaa…sagen wir…ich hab sie woanders aufgeschnappt.
Kruse: Die erste Musik, an die ich mich ER-innere? Also, wenn mich nicht alles täuscht, war es „Maikäfer fliegt“. Und zwar gesungen von der Mutter. Ich weiß nicht…da war man…ich muss vier oder was gewesen sein. Sie hat gebügelt und ich bin zu ihr in die Küche gegangen, weil ich im Flur immer gespielt habe mit irgendwelchen…weiß-nicht-was…Sachen, die eigentlich für Erwachsene waren. Taschentücher. Und da hat man dann gerne „Einsame Insel“ gespielt und durfte nur drei Gegenstände mithaben. Oder fünf – im besten Fall. Je kleiner die Insel, desto mehr und größer die Gegenstände. Dann bin ich – glaub ich – da hin getapert, hab am Rockzipfel gezupft und gesagt: „Sing das bitte niiiicht! Das find ich so traurig!“, oder so. Und sie hat irgendwie gechanged (fuchtelt mit den Händen) und dann kam sowas, was sie am Fußballplatz immer singen: (hebt an) „Oh, wie ist das schön. Oh, wie ist das schön…“ (ab unter Absingen schmutziger Lieder; kehrt kurz darauf mit einer LP unterm Arm zurück)
Ja, so war das. Und der erste Brecher war dann „I Wanna Be Free“ von THE V.I.P.‘s. Soll ich‘s dir noch aufnehmen?
Herr B: Wäre mir eine Ehre. Und was war deine erste Single? Meine ist peinlich: „Listen to your heart“ von ROXETTE.
Kruse: Bei mir gab es da – wenn man tagsüber als Einzelkind zu Hause geblieben ist – den Unterschied, ob man den Schlüssel fürs Wohnzimmer gefunden hatte, wo der Dual-Plattenspieler stand, oder den Schlüssel vom kleinen Zimmer vom großen Bruder. Hatte man natürlich beide gefunden, konnte man sich nicht so ganz entscheiden. Insofern ist DAS die erste Musik! (präsentiert die LP)
Herr B: „Schlager des Jahres“, Nummer 3? Welches Jahr?
Kruse: Na ’67. Und dazu gab es das. (reicht eine andere Platte über den Tisch)
Herr B: „Beat Club ’67“.
Kruse: Aber die „Schlager des Jahres“ waren immer der Witz. (stolz) Na, nimm sie ruhig in die Hand. Drei ausländische Titel – und man musste immer ewig darauf warten. Denn die wurde nur Sonntags gespielt.
Das Telefon klingelt.
Kruse: Ich muss mal ran…(geht ab und telefoniert im Off)
Kruse betritt wieder das Zimmer.
Herr B: Wer sind denn die MAGICS?
Kruse: Na ja, pass auf, das ist das, was ganz klein auf den „True Tapes“ (musikalisches Beiwerk zur Inszenierung von Sam Shepards „True Dylan“ im Schauspielhaus Bochum, 2002) drauf ist. Diese 30 Sekunden… Das ist Drafi DEUTSCHER. (mimt) „Niem miech miet auf deine Reisee…“ Und irgendwann kam als letzte Nummer „Shakin‘ All Over“. Das war die einzigste, verdammte Platte, die wir damals hatten. Und die wurde immer nur einmal die Woche, Sonntags morgens aufgelegt. Der Alte war ja fünf Tage die Woche im Hamburger Hafen – auch Nächte. Da gab‘s Sonntags immer ein Ei…und die Platte. Anschließend gab es dann das Große Hamburger Hafenkonzert im Radio. Wie im Handke („Die Unvernünftigen Sterben aus“, 2002) in Bochum.
Herr B: Hörst du die immer noch Sonntags?
Kruse: Hmmm. (verschmitzt) Nicht direkt.
Dazwischen gab es dann noch irgendwelche Klassikplatten. Ich glaube entscheidender ist die erste S-E-L-B-S-T erworbene. Das war „Satisfaction“. (Pause) Aber sei sicher, die erste Musik waren THE V.I.P.‘s. (legt „I Wanna Be Free“ auf) und wie ich das gehört habe…da hat es mich durch-ZUCKT! (schüttelt sich) Das war der Sound den wir machen wollten.
Die ersten Takte rumpeln metallisch aus den Boxen. Laut.
Kruse: (lauter, spricht über die Musik hinweg) Sie kriegen den Sound auch nicht mehr hin. (Pause) Scheiß Anlage! (entschuldigend) Muss man über ’ne richtig gute hören. (…I Wanna Be Free…) Aber glaub nicht, dass ich auch nur ein Wort Englisch konnte. Das hat sich hier reingemeißelt wie blöd. (tippt sich energisch an den Kopf) Die Musik, nicht was sie singen. Wie denn? Das wurden dann später SPOOKY TRUTH. Weltberühmt, richtig geil. (Pause) Das waren Loser. Sollte dann die Begleitband von HENDRIX werden. (Pause) Und alles unter beschissensten Bedingungen aufgenommen. 4 Spuren, 2 Stunden. Sie geben es alle zu: sie kriegen es einfach nicht mehr hin.
(Musik wieder auf Hintergrundlautstärke) Also du merkst, wir müssen uns mal drei, vier Tage nehmen. Um 24 Uhr sind wir dann richtig gut.
Kruse kramt und reicht eine LP über den Tisch, dessen Cover stark an seine eigenen Filzstiftzeichnungen erinnert. Der Albumtitel verkündet „ACTION!“
Kruse: Früher haben wir so Windräder gebaut, kennst du die? So groß wie ’ne LP. Ausschneiden, in der Mitte ein Kreis wie ’ne Single. Dann, so, kreuz, kreuz, kreuz. (gibt gestikulierend eine genaue Bauanleitung) Und innerhalb der Single musst du so Sterne, Dreiecke, wie Käse, ausschneiden. Immer ein Dreieck nach hier her, eins nach dort hin drücken. Dann, bei Wind, zischt das ab. Das Ding rollt von selbst, frag Michelangelo! (…I Wanna Be Free…)
Und dann fing ich an, die zu bebildern und schrieb „ACTION!“ drauf. (Pause) Also die total Asozialen – ‘tschuldigung – bester Freund, dessen großer Bruder sagt: „Hey, guck mal, wie der Aktion schreibt.“ (lacht) Also das nur zu „KLASSENFEIND“ in Zürich.
Pause
Kruse: Ja, so ist das gewesen. Und dann…(zieht an seiner Zigarette)…dann ging alles relativ schnell.
Während die letzten Takte von „I Wanna Be Free“ verklingen – sanft im Hintergrund dahin wehend, zieht das Licht noch einmal kurz auf und überstrahlt die Szene. Es flackert ein…zweimal und erlischt dann vollständig. Ein Telefon klingelt – klingelt und klingelt, bis es verstummt.